Nonna Lucia
Renata Burckhardt für Omanut
September 2021
Meine Nonna Lucia war stark, kräftig und stolz. Sie lachte gerne und zeigte dabei eine Zahnlücke, die ich wie ihr Lachen liebte und gerne selber gehabt hätte. Manchmal, wenn wir während des Essens oder spätabends in ihrem Haus in Basel bei abschliessendem Käse uns ausgiebig Schabernack erzählten – häufig sassen und plauderten wir bis tief in die Nacht -, legte sie sich eine Serviette auf den Kopf oder drückte sich diese fest auf den Mund. Ich weiss nicht, ob sie sich wegen der Zahnlücke schämte, ob sie sich sorgte, dass zwischen ihren Zähnen Essensreste verblieben waren – sie war im höchsten Masse gepflegt -; oder ob es eine Form von Kontrolle war. Kontrolle war ihr ein oberstes Gut, Kontrollverlust ihr Albtraum. Vielleicht deswegen auch schlief sie stets wenig bis kaum, als hätte sie durchgängig den Geräuschen der Nacht lauschen müssen, um zu wissen, was vor sich geht, als hätte sie mit aller Kraft etwas zusammenhalten müssen, einen eigenen inneren Kern. Einen Kern vielleicht, den sie schützte und bewahrte, nach all den Neuanfängen, nach all den Übersiedlungen von Konstantinopel nach Turin nach Mailand nach Basel nach Goma. Ging ich des nachts über den Flur Richtung Toilette, lag sie bei Licht in ihrem grossen, altmodischen Bett und las, auch als mein Nonno noch neben ihr lag. Ein Bild, das sich mir eingebrannt hat. Und weil Nonna in den letzten Jahren nicht mehr gut hörte, konnte ich im Türrahmen stehenbleiben und beobachten, wie sie las, wie sie hin und wieder über dem Buch einnickte und dann weiterlas, als würde sie sich gar zwingen, wach zu bleiben. Die Schlaflosigkeit habe ich von ihr übernommen, die Zahnlücke leider nicht. Stets wollte ich Nonna beeindrucken, wollte, dass sie sieht, dass ich ebenso so stark bin wie sie.
Bis zu jenem Tag, an dem mir Tante Franca bei einer Tasse Kaffee in der Innenstadt sagte, Nonna sei erfüllt von Angst, wusste ich nichts von dieser Angst. Heute erstaunt mich das. All die Jahre, während derer ich Nonna eins zu eins verstanden hatte – wie man das als Kind tut, man schaut nicht bewusst dahinter, man spürt nur „dahinter“ und das sehr stark, spürt doppelte Böden, und ahnt, dass wenn es zu viele werden, etwas ins Ungleichgewicht gerät. Wohl hatte Tante Franca recht, und Nonna Lucia war erfüllt von einer Angst, die so tief in ihr drin sass, dass sie selbst nicht mehr wusste, dass es sie gab. Vielleicht. Ich weiss es nicht und werde es nie wissen. Ich habe mit Nonna nie darüber gesprochen, und hätte ich es versucht, hätte sie das Wort nicht in den Mund genommen, nicht auf sich bezogen. Paura? No! Sie war auch eisern, hart und stolz, mit sich und anderen. Wenn ihr danach war, konnte sie ihre Finger direkt in Wunden legen, auch bei Personen, die sie zum ersten Mal sah. Und weder tat es ihr hinterher leid, noch schämte sie sich dafür. Jedenfalls äusserte sie sich nie dazu. Never complain, never explain. Wie also wissen, wann und in welchem Gewand Nonnas Angst sich zeigte – und ob überhaupt? War es ihr Wille, ihre eiserne Disziplin oder ihr Drang, sich zu amüsieren, auch im Alltäglichen? Wie wissen, ob die Angst konkret irgendwo sass oder ob sie so mutiert war, dass sie nicht mehr zu erkennen war?
Warum hatte ich mich mit Tante Franca zum Kaffee in der Innenstadt verabredet, an einem lichten Frühlingsmorgen im Sonnenschein? Tante Franca und ich waren uns an Familienanlässen Jahr für Jahr einfach begegnet, mehr nicht. Abgrenzung als Überlebensstrategie. Sie trug eine Wut und Ungeduld gegenüber uns als Familie mit sich herum, zugleich hielt sie uns aus. Für diesen einen Kaffee aber begegneten wir uns schüchtern und wohlgesinnt, als wäre ein kurzer Riss durch die Wand der Geschichte gegangen und wir hätten uns kurz erblicken können. Auf Tante Francas Behauptung aber, Nonna sei ein von Angst erfüllter Charakter gewesen, reagierte ich ungläubig: „Veramente?“ Meine Nonna, für jeden Scherz zu haben, voll von Angst? Tante Franca antwortete mit der ihr eigenen, vehementen Handbewegung und mit dem typisch italienischen Laut, der mehr als alles andere ein JA bekräftigt: „Eh!“
Lucia, meine starke Nonna. Nonna, die alle in ihren Bann zog, wenn sie einen Raum betrat, die stets unerschrocken wirkte, die ein einziges Mal nur, beim Tod ihrer Tochter, meiner Mama, zusammenbrach. Noch auf ihrem Sterbebett trug sie „il rossetto“ auf den Lippen und war tadellos gepflegt, sprechen konnte sie nicht mehr. Da plötzlich aber flogen ihre riesigen, auf dem Bettlaken liegenden Hände hoch und vollführten energische Bewegungen, faszinierend komisch, berührend, wir lachten. Oder nur ich, nur innerlich? Im Verhältnis zum sterbenden Körper wirkten Nonnas Hände noch grösser als sie tatsächlich waren, und sie waren wie immer schön, kräftig und gepflegt; ich beobachtete die Hände und wusste, ihre Haut war weich, warm und trocken. Wenn Nonna im Fumoir in ihrem Sessel sass und wir Kinder uns vor ihr auf den Boden setzten, hatte sie uns stets über Rücken, Nacken und Haar gestrichen – keine von uns, die dann nicht in eine Art Katzenstarre fiel, sich den schönsten Händen der Welt hingab, nahezu schnurrend.
„Sie dirigiert etwas, sie dirigiert ein Lied!“, rief Tante Silvia, die mit am Sterbebett stand. Wir nickten alle, Tante Silvia, Tante Franca, die Sterbebegleiterin und ich. Am Ende ihres Lebens hatte Nonna fast nur noch aus Liedern bestanden; je eingefallener sie über die Jahre geworden war, desto mehr hatte sie sich mit alten Liedern aufgefüllt. Mir war sofort klar, was Nonna hören wollte. In den Wochen vor ihrem Tod hatte ich ihr wieder und wieder ein Lied aus den Fünfzigern vorsingen müssen, sie hatte entzückt zugehört, hatte das Lied hin und wieder von alleine angestimmt, sie wollte es unbedingt noch lernen, und wenn sie nicht weiterwusste, stieg ich mit ein: „Sull’acqua“ von Franco Maresca und Mario Pagano, 1963 von Emilio Pericoli in Sanremo dargeboten. Eine italienische Hymne an eine Liebe, mit der man über ein Wasser gleitet, ob Fluss oder Meer, während das Herz einschläft. Bei diesem Lied, nur bei diesem, war mir jedes Mal, als sähe ich, was Nonna vor ihrem inneren Auge sieht: eine weite glitzernde Wasseroberfläche an der Küste der Riviera Levante, dort, wo Nonna in jungen Jahren zum ersten Mal glücklich sein durfte, eine Wasseroberfläche, so glitzernd, wie man es nur vom Meerwasser kennt, wenn zarte Wellen gehen und die Sonne brennt, der Blick sich in Lichtreflexionen verliert und man sich selber in der Zeit.
Erst als ich zum ersten Mal Istanbul besuchte und zusammen mit einer Freundin beim Terminal Eminönü einen kleinen Kutter mietete, mit dem wir begeistert zwischen den beiden europäischen Teilen Istanbuls dahinröhrten, begriff ich, dass mein Bild, das zugleich Nonnas war, vielleicht nicht von der italienischen Küste herrührte, sondern aus tieferen Erinnerungsschichten stammte; vom Goldenen Horn, von einer Meeresoberfläche, die den Blick nach Asien freigab, auf den Bosporus oder auf die Galata-Brücke. Von der Brücke hatte Nonna immer wieder erzählt; sie habe dort noch gesehen, wie Menschen erhängt worden seien. In Pera, dem heutigen Beyoğlu, wurde seit 1875 eine unterirdische Standseilbahn betrieben, und ich stelle mir vor, wie Nonna als kleines Mädchen von dort zur Galata-Brücke fuhr, vielleicht aber auch mit einer der ersten elektrischen Strassenbahnen, die ab 1913 gingen. Nonnas Familie hatte seit Jahrhunderten in Konstantinopel gelebt, auch Nonna verbrachte ihre ersten Lebensjahre dort, bevor sie das Land verlassen mussten. Als Nonna 1910 geboren wurde, war Konstantinopel multiethnisch, multikulturell, weltoffen; eine Millionenstadt, deren Führungsschicht lange vor den Westeuropäern Häuser mit Meerblick bevorzugten.
Wasser, immer wieder das Wasser. Wasser war Nonnas Element. Immer wieder erzählte sie, wie sie als junge Frau mit offenen Augen im Meer getaucht sei und ihr Salzwasser nie etwas ausgemacht habe. Und wenn ich heute an Nonna denke, sehe ich neben vielen Bildern auch dieses: Wie sie in der Abendsonne im hinteren Garten ihres Hauses mit einem Schlauch die hellen Marmorbodenplatten abspritzt, wie sie ihre Rosenbeete umrundet und aus einer kleinen weinroten Spritzkanne bedächtig Wasser auf ihre Rosen giesst. Stets sah sie dabei aus, als redete sie mit den Rosen. Es waren Momente, in denen Nonna weit weg zu sein schien, ganz für sich, und ihre Bewegungen glichen einem langen Gebet. Nie erzählte sie, was ihr durch den Kopf ging, vielleicht war sie auch einfach nur komplett präsent, eins mit den Rosen, im Augenblick. Ich beobachtete sie dann häufig vom Esszimmer aus und wenn ich es nicht mehr aushielt und zu ihr in den Garten trat, war ich beschämt und hätte am liebsten geflüstert.
„Mentre il cuore s’addormenta – galleggiando come un fiore sull’acqua – Guarda in cielo, quante stelle e la luna a poco a poco qui sull’acqua con te – Le tue braccia che mi chiamano le tue braccia che si chiudono come l’acqua su di me e mi portano nel fondo d› un azzurro senza fine, senza fine, senza fine.“ Glücklicherweise durfte ich singen, als Nonna in ihrem Sterbebett dirigierte, die anderen weinten, vielleicht hatte Nonna bewusst mich beauftragt; es wäre ihr zuzutrauen gewesen, sie konnte geschickt manipulieren. Und tatsächlich, als ich zu singen begann, legten sich ihre Hände zurück aufs Laken, im wahrsten Sinn des Wortes hatte Nonna bis zu ihrem allerletzten Ende den Ton angegeben. Es war ihr anzusehen, dass sie das amüsierte. Ich glaube gar, auf ihrem Gesicht ein leises Grinsen entdeckt zu haben.
Nonnas italienischer Vater arbeitete bis zu Italiens Eintritt in den Ersten Weltkrieg in Konstantinopel für eine italienische Firma. Nonnas Brüder – Roberto, geboren 1897 und Alberto, geboren 1907 – gingen in die Französische Schule, sprachen Italienisch, Französisch, Englisch, etwas Deutsch, Griechisch und Armenisch. Die beiden Mädchen, Nonna und ihre ältere Schwester Rachel, besuchten eine jüdische Institution, die streng gewesen sein soll. Nonna war zutiefst unglücklich dort, so erzählte sie uns immer wieder. Ihre Schwester habe in allem als Vorzeigemädchen gegolten, war zart, gescheit und strebsam, Nonna hingegen sei wild gewesen, mit riesigen Händen und Füssen, ihre Stickereien seien konsequent missglückt. Nachdem die Familie nach Italien hatte übersiedeln müssen und sobald Nonna der Kindheit entwachsen war, wollte sie nichts mehr mit einer Synagoge zu tun haben, nichts mehr mit dem jüdischen Glauben. Dennoch ist auf alten Schwarzweissfotos zu sehen, wie sie ihren 20. Geburtstag mit Mädchen der jüdischen Gemeinde feiert; wie sie die Sommermonate mit ihren jüdischen Cousins und Freunden an der italienischen Riviera verbringt, lachend auf einem hohen Stein balanciert oder gleich einer Zirkusakrobatin auf den Schultern eines jungen Mannes.
Nonnas Grossmama, meine Ururgrossmama wurde 1848 geboren, heiratete 1861 dreizehnjährig und wurden Mitte Zwanzig Witwe. Nonnas Mama, meine Urgrossmama, hiess Zembul und wurde 1874 geboren. Wie weit diese Jahreszahlen zurückliegen – und dennoch entsteht eine direkte Linie von meiner Ur- und Ururgrossmama zu mir: Über meine Nonna, bei der ich vor rund 18 Jahren noch zwischenzeitig gewohnt, mit ihr gegessen, gestritten, gelacht und nächtelang Puzzle gebaut habe. Meine Ururgrossmama musste nach dem Ersten Weltkrieg im damals hohen Alter von rund 70 Jahren mit der einen Tochter noch nach Triest ziehen, während ihre andere Tochter, Zembul als junge Witwe in Turin ihr neues Leben versuchte. Sie eröffnete an der Via Nizza ein Schuhgeschäft. Ihr Mann und ihr jüngster Sohn Giacomo – Nonnas Papa und Nonnas kleiner Bruder – waren 1918 an der Spanischen Grippe gestorben, was die Söhne Alberto und Roberto erst erfuhren, als sie aus dem Krieg zurückkamen. Nonna erzählte uns immer wieder, ihre Mutter Zembul habe sieben Jahre lang ununterbrochen geweint, sie erzählte es so häufig, dass die Geschichte zur Anekdote verkam. Es müssen die Jahre gewesen sein, die so schwer für Nonna waren, dass sie fortan emotionale Ausbrüche, Tränen, Trauer, Haltlosigkeit und Unsicherheit verachtete und nicht duldete, weder bei ihren Kindern, noch bei uns Grosskindern, noch bei sonst jemandem.
Zembul starb 1925 in Turin. Jahre später, 1935, soll vor der Tür des Turiner Hauses plötzlich ihre Mutter, meine Ururgrossmama erschienen sein, um zu erfahren, ob ihre Tochter noch lebe. Es habe geklingelt und in der Gasse habe eine winzige, uralte Frau aus einer anderen Zeit gestanden, weisshaarig, hager, fast 90 Jahre alt, seit über 60 Jahren Witwe. So erzählte uns Nonna, die zu der Zeit nicht mehr in Italien wohnte, aber aus Basel gerade auf Besuch in Turin war, mit ihrem frisch geborenen Sohn, meinem Onkel Carlo, der mir diesen Frühling 2021 erklärte, Nonna sei eine entwurzelte Person gewesen, eine nicht sozialisierte, sie und Nonno hätten sich selber Bezugsrahmen sein wollen, die Sozialisierung aber sei eine unumgängliche Forderung unserer existentiellen Entfaltung, er habe nicht viel zum Jüdischen zu sagen, er habe sich gänzlich dem Katholizismus verschrieben, wie ich ja wisse. Dort in Turin aber – wo noch Verwandte von mir leben, die eine arbeitet als Zahnärztin, ihr Vater hatte an der Via Maria Vittoria mit Teppichen und Kolonialwaren gehandelt, bevor er sich das Leben nahm -, teilte meine Nonna ihrer winzigen uralten Nonna mit, ihre Tochter Zembul lebe schon lange nicht mehr.
1925 war Nonna also Vollwaise, fünfzehnjährig. Ihr Bruder Alberto hatte bereits eine Katholikin geheiratet, nach katholischem Ritus. Und ihr Bruder Roberto lebte in wilder Ehe mit Tante Anna, der es als sechszehnjährige Fabrikarbeiterin aufgrund einer Wette dummerweise gelungen war, einen Grafen zu heiraten, vor dem sie aber zurück zu den Eltern flüchtete und sich fortan weigerte, mit ihm ein Leben zu führen, worauf dieser ihr auf den Kopf geschlagen haben soll, über den anschliessenden Prozess soll in allen Zeitungen berichtet worden sein. Roberto und diese Anna nahmen Nonna in Obhut. Und Nonna lernte, das Leben zu geniessen. Sie vergötterte Anna. Wann immer ich die Bilder von Nonnas italienischer Zeit anschaue, denke ich, es war das erste Mal, dass sie an einem Ort ankam, im Leben. Anna aber wurde für uns eine Art Symbol für Freiheit, Kraft und Lebenslust. Auf einer Fotografie ist Anna unter einem immensen Hut zu sehen, breit grinsend, offen, herzhaft, mit direktem Blick in die Kamera, wenn auch als Kind mich der Pelzkragen mit Wieselkopf, den sie sich um den Hals gewunden hatte, stets irritierte.
Die Sommermonate verbrachte man an der Riviera Levante, Nonna tauchte im Meer wie ein Fisch, sah aus wie ein Junge, lang und schlaksig, bis ihr innerhalb eines Jahres der Busen wuchs und die Jungs am Strand mit einer Nadel hineinstechen wollten, dann aber einer um den anderen um ihre Hand anhielten. Nonna wollte nicht. Immer wieder erzählte sie mir, wie gerne sie einen Beruf erlernt hätte, „Schreinerin zum Beispiel“ sagte sie hin und wieder, auch studiert hätte sie gerne. Dann eines Ferientages tauchte im Kreis der Freunde „lo svizzero“ auf, Polisseno, mein Nonno. Dieser beachtete Nonna kaum, schickte ihr aber bald freundliche Postkarten aus Deutschland und aus der Schweiz und hielt schliesslich auch um ihre Hand an. „Wir waren am Strand, er blickte aufs Meer und fragte mich, ob ich ihn heiraten wolle, und ich dachte: Ich mag ihn, ich habe Respekt vor ihm, ich sage Ja“, erzählte Nonna uns gerne.
Nachdem Nonnas Familie Konstantinopel hatte zurücklassen müssen, Nonna in Turin von ihrem Bruder und Anna gross gezogen worden war, lebte sie Anfang Zwanzig und frisch vermählt mit Polisseno in Milano. Sie hatten 1933 in Turin zivil geheiratet, die Heirat hatte verschoben werden müssen, weil Nonnos Papa verstorben war. Brautpaar, Trauzeugen und Nonnas Brüder stiessen miteinander an, Eltern gab es keine mehr, Nonna wie Nonno waren da beide bereits Vollwaisen. Nach der Hochzeit in Turin machte sich das frisch vermählte Paar auf die Reise, zuerst nach Locarno, wo es die erste gemeinsame Nacht verbrachte. Anschliessend weiter nach Basel, wo Nonno das frische Grab seines Vaters besuchte. Sie übernachteten in einem Hotel am Bahnhofplatz. Als Polisseno eingeschlafen war, erhob sich Nonna leise, stellte sich ans Fenster, schaute auf den Platz hinunter und zurück auf ihren frischen Ehemann, sie, die Schlaflose, die Gedanken nächtelang drehte und wendete. Nonno erwachte und erschrak, als er sie nicht neben sich vorfand. Er trat hinter sie und murmelte, ob sie ihn bereits wieder verlassen wolle, und fragte: „Wie findest du das Städtchen?“ Sie antwortete: „Nett, wohnen möchte ich hier nie“. Sie reisten weiter nach Worms, zum Grab von Polissenos Mutter, zwei Jahre später liessen sie sich in Basel nieder. Im Baslerischen Umfeld der Zwischenkriegszeit war Nonna eine wandelnde Faust aufs Auge – und blieb es wohl lange. Sie sang laut, hatte zu viel Temperament und spielte ihre Attraktivität nicht klein. „Sai, io non era bella, ma avevo qualcosa“, erzählte sie uns gerne und hob dabei lustig-eitel wie ein Clown ihre Augenbrauen. 70 Jahre später noch sprach sie so gebrochen Deutsch, als wäre sie soeben frisch nach Basel gezogen.
Nonno, der als Prokurist Karriere in einer Transportfirma hätte machen können, kündigte im Jähzorn, als die Beförderung zum Direktor aufgeschoben werden musste. Er machte sich selbstständig, zuerst im Früchte- und Gemüsehandel, später im Kaffeehandel. Ende der 40er Jahre kaufte er eine stillgelegte Fabrik in Zaire, out of the blue, aufgrund eines Hinweises nur. Ich nehme an, Nonna stand unter Schock, aber was blieb ihr anderes übrig als erneut mitzuziehen, nun in eine vollkommen fremdartige Welt. Nonno und Nonna bereisten viele Länder und lebten viele Jahre zwischen Basel und Zaire, dem heutigen Kongo, nahe der Grenze zu Ruanda. Die drei Kinder – meine Mama und meine beiden Onkel – tingelten mit, wenn es ging, blieben aber grösstenteils in Basel. Istanbul besuchte Nonna Zeit ihres Lebens kein einziges Mal wieder.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kaufte Nonno in Basel jenes Haus, das für uns alle eine Art Oase wurde, von dem ich bis heute regelmässig träume, in dem Nonna 60 Jahre lang lebte, obwohl sie die Angst nie verliess, das solide Terrain könne nur vorübergehend sein. Das Haus wurde eine Welt für sich, eine offene Welt, in der viele Leute aus aller Welt ein- und ausgingen, Freunde, Bekannte, Verwandte, und während der Jahre des Zweiten Weltkrieges diente es als Versteck für Roberto und Anna, die aus Italien hatten flüchten müssen. So wohnte man alle zusammen, ebenso Caspar aus Goma und zwischenzeitig zwei, drei Kinder, die Unterschlupf brauchten. Die Grenze blieb nah, Diskretion war das Credo der Stunde. Alberto hingegen war in Italien geblieben. Er konnte sich bei der Familie seiner katholischen Frau in einem norditalienischen Bergdorf verstecken, wo er wochenlang unter einem Schreibtisch gehaust haben soll. Nachdem sich in Turin alle jüdischen Menschen in einem Büro hatten melden müssen und auch Alberto sich wartend in die Reihe gestellt hatte, soll ihm eine innere Stimme gesagt haben: „Geh, geh einfach raus.“ Er verliess das Büro mit der grösstmöglichen Selbstverständlichkeit, hoch gewachsen wie er war, mit stahlblauen Augen, so soll er davongekommen sein.
Meine Vorfahren also. Ursprünglich jüdisch-spanisch, gläubig, aber agnostisch, praktizierend, nicht orthodox. Ist das eine akzeptable Beschreibung? Wohl kaum – und zugleich doch? Vielleicht jedenfalls sagt sie vieles aus, über mich, über Nonna, über meine Mama, über meine Onkel, über unsere Familie. Das Jüdische ist irgendwie da und doch nicht greifbar. Es ist keine Identifikation und prägt doch. Wir sprachen nie wirklich darüber, und doch verbindet uns, dass es Teil von Nonna war, auch ihre daraus entstandene Angst, auch die Tatsache, dass sie das Jüdische hinter sich lassen wollte. Seit ich aber gezielt danach frage, wo ich noch fragen kann – bei meinen Onkels -, erhalte ich sonderbare Antworten, ausschweifende, haltlose, verwirrende.
Auch das Wort Sephardim benutzte Nonna Zeit ihres Lebens nicht. Die sephardischen Vorfahren, die ab 1492 vor der Inquisition in Spanien geflüchtet waren. Drei Millionen Sepharden sollen heute verstreut über den Erdball leben. Sind wir Teil dieser 3 Millionen, ich auch, meine Schwestern? Für meine mündliche Matura wählte ich die Geschichte der Sephardim, und von irgendetwas muss ich mich so getragen gefühlt haben, dass ich während der Prüfung im Gespräch mit den Experten plötzlich leicht erschreckt feststellte, dass ich mich komplett entspannt zurückgelehnt hatte, so sicher war ich meiner Sache. Hätte eigentlich auch ich einen spanischen Pass beantragen können, rein theoretisch, als Spanien dies vor wenigen Jahren allen sephardischen Nachkommen anbot? Eigentlich. Das Wort „eigentlich“ taucht auf, sobald ich mich mit dem Jüdischen beschäftige. Mein bald 10- jähriger Bub ist seit einigen Jahren auffällig eng mit Yonathan befreundet, sie besuchen dieselbe Schulklasse, und sind auch in der Freizeit, am Wochenende und in den Ferien zusammen. Oft sind sie so vertieft ins Gespräch, philosophieren und erzählen sich ununterbrochen Dinge, befinden sich in einem total eigenen Kosmos, dass man kaum dazwischenkommt. Zufall, dass Yonathan mit Familienname Levi heisst. Aber wer weiss? Es war Stefanie, die Mutter von Yonathan, von der ich es zum ersten Mal so hörte: „Du bist nicht „eigentlich“ jüdisch, du bist es ganz. Punkt.“ Sie hingegen, die einwandfrei Hebräisch spricht, lange in Israel gelebt hat, mit einem Levi verheiratet ist und zwei Söhne mit ihm hat, ist es nicht. War es ebenso Zufall, dass Nonnas engste Freundinnen, mit denen sie während all der Jahre zwischen Zaire und Basel vertraut blieb, jüdisch waren; die eine russisch, die eine französisch, die eine aus Berlin?
Als meine Mama an Polissenos Beerdigung im Kreise der versammelten Familie einen Stein auf sein Grab legte, verdrehte Tante Franca die Augen; und die Trauergemeinschaft teilte sich auf in jene, die dem Beispiel meiner Mama folgten und ebenso einen Stein legten, und jene, die an Ort und Stelle stehenblieben. Nonna blieb stehen, ihr Gesicht versteinerte. Hinterher sprach man nicht über die Intervention, wohl wurde sie der Einfachheit halber dem Wahnsinn meiner Mama zugeschrieben, dem „schwarzen Schaf“. Sie befand sich da grad erneut in einer manischen Phase. Viele Jahre später aber, wenige Zeit vor Nonnas Tod im Alter von 97 Jahren, bemühte sich ein junger Mann der Jüdischen Medien AG um Nonna, was sie zu unser aller Überraschung zuliess. Ich glaube, sie mochte die Gespräche mit ihm, wenn auch ich nie erfahren habe, wovon die Gespräche handelten. Zurückgewinnen konnte er sie dennoch nicht.
Als Nonna während des Sterbens ins Delirium geriet, kurz nachdem ich für sie gesungen hatte, erkannte sie in mir plötzlich ihre Schwester Rachel. Rachel aber, die in der Zwischenkriegszeit ebenso einen Katholiken geheiratet hatte, selber katholisch geworden war, war da bereits seit mehr als 60 Jahren tot. Mit weit aufgerissenen Augen sprach mich Nonna plötzlich auf Spanisch an, im alten Ladino: „Rachel, a donde vas.“ Ich erschrak zutiefst und war zugleich gebannt wie nie zuvor; eine längst vergangene Geschichte hauchte mich an, als wäre ein Geist im Raum, dem ich meinen Körper lieh. Wenige Sekunden lang verkörperte ich für Nonna ihre 1941 verstorbene Schwester, die sie in der Sprache anrief, mit dem die beiden Mädchen fast 100 Jahre zuvor als sephardische Jüdinnen in Konstantinopel aufgewachsen waren. Am Ende ihres Lebens vor 14 Jahren wünschte sich Nonna, dass man ihr Gebete rezitiere, das Vaterunser und das Ave Maria, neben ihrem Bett stand die Heilige Familie, Jesus, Maria, Josef, wenn auch sie nie wirklich gläubig war. Ich erinnere mich an keine offensichtliche Angst. Aber wenn ich zurück horche, so meine ich, mich an eine spürbare Kruste zu erinnern, unsichtbar und undurchdringlich, und darunter war vielleicht die Angst.